Leseprobe

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Eine kurze Leseprobe!

Um Euch einen etwas genaueren Einblick in das Buch zu geben, haben wir eine Leseprobe (bestehend aus Kapitel I&II) für Euch bereitgestellt!

Kapitel 1
Schmetterling

Glauben Sie an Schicksal?
Oder gar an Bestimmung?
Oder gehören Sie jener Gruppierung an, die der unumstößlichen Ansicht sind, es wären stets nur die eigenen Entscheidungen, die den künftigen Lebensweg bestimmen?
Nun, vermutlich haben all diese Ansichten ihre Berechtigung.
Ich selbst glaube an die Kausalität.
An Ursache und Wirkung.
Sie wissen schon: An dieses etwas abstrakte Gedankenkonstrukt, dem beispielweise auch die Chaostheorie zugrunde liegt: Nach der These, wenn irgendwo ein Schmetterling mit dem Flügeln schlägt, gibt es bei uns Regen statt Sonnenschein. Oder ein einziger winziger Klumpen Schnee, der imstande ist, im Gebirge eine Lawine auszulösen.
Vereinfacht ausgedrückt: Kleine und seien es noch so unbedeutende Ereignisse, können eine ganze Kaskade Schwerwiegende nach sich ziehen.
Mein Schmetterlingsschlag ereignete sich neun Monate bevor ich das Licht der Welt erblickte.
Denn bereits bevor ich im Oktober 1963 geboren wurde, war ich drogenabhängig.
Um genau zu sein, heroinabhängig.
Denn meine leibliche Mutter war drogenabhängig.
Und sie war selbst in ihrer Schwangerschaft nicht von dieser Sucht losgekommen.
Und so war ich seit dem Moment meiner Zeugung zu einem unfreiwilligen Konsumenten geworden.
Einem Süchtigen.
Einem Junkie im Mutterleib, wenn Sie so wollen.
Doch im Gegensatz zu ihr endete diese Abhängigkeit für mich im Augenblick meiner Geburt.
Nicht weil ich es wollte, sondern weil es einfach den grausamen biologischen Gesetzmäßigkeiten entsprach, die mit einem derartigen Ereignis einhergehen.
Und so wurde mir ein eiskalter Entzug aufgebürdet.
Ein Entzug, der sich während jener wenigen Sekunden vollzog, als die Nabelschnur durchtrennt und ich in mein eigenes Leben entlassen wurde. Ein Entzug, gegen den ich mich nicht wehren, geschweige denn, dass ich ihn bewältigen konnte.
Ich wurde also einfach mit dieser Bürde in die Welt hineingestoßen; ins kalte Wasser geworfen, wenn Sie so wollen.
Es war nicht meine Entscheidung, so geboren zu werden.
Es war einfach so geschehen.
Und da meine leibliche Mutter es verabsäumt hatte, ihre Sucht preiszugeben, stand auch kein probates Mittel zu Verfügung, um mir zu helfen.
Also tat ich das, was Säuglinge nun mal tun. Ich bediente mich des einzig adäquaten Mittels, das mir zur Verfügung stand, um meinem Umfeld meinen Schmerz zu artikulieren.
Ich schrie.
Ich schrie ganz einfach deshalb, weil ich kein Heroin mehr bekam.
Ich war ein Schreibaby, wie es im gängigen Sprachgebrauch so schön heißt.
Es ist wohl nicht schwer zu erahnen, was geschieht, wenn ein schreiendes Kind sich einem Junkie gegenübersieht, dessen Gedanken nur um den nächsten Schuss kreisen und dessen einzige Erinnerung darin bestand, wie der letzte Trip gewesen war.
Zwei Welten, die in unbarmherziger Manier miteinander kollidierten.
Und so kam es, wie es kommen musste.
Meine Mutter, die nach wie vor schwer mit ihrer Drogensucht zu kämpfen hatte, war während der kurzen Phase unseres Zusammenseins schlichtweg mit mir überfordert.
Keinen Ausweg mehr vor sich sehend, brachte sie mich schließlich in ein Kinderheim.
Ich bin mir nicht sicher, ob sie diese Entscheidung nur darum traf, weil sie für mich das Beste wollte.
Vielleicht wollte sie das tatsächlich. Denn welche Mutter, egal ob drogenabhängig oder nicht, würde nicht das Beste für ihr Kind wollen? Ist es nicht ein ureigener Instinkt, für sein eigen Fleisch und Blut nur das Beste zu wollen?
Dem gegenüber steht natürlich der Umstand, dass sie nicht imstande war, sich von ihrer Sucht zu lösen. Selbst für mich nicht. Ihr eigen Fleisch und Blut.
Sie hat also zweifellos Schuld auf sich geladen. Schuld – oder zumindest eine Teilschuld – daran, was mir später widerfahren ist.
Natürlich konnte sie nicht wissen, was ihr Handeln nach sich ziehen würde; was dieser kurze Moment, in dem diese Entscheidung gefallen war, für schwerwiegende Folgen für ihr Kind nach sich ziehen würde.
Und doch hat sie sie getroffen.
Ob ich ihr dafür grolle?
Sie werden es kaum glauben – ich tue es nicht!
Zumindest nicht mehr!
Denn weder kann ich aus heutiger Sicht ihre damalige Situation nachvollziehen, so sehr ich mich auch abmühe, noch bin in ich einer dieser Menschen, der ewig mit seiner Vergangenheit hadert.
Ich erzähle ihnen meine Geschichte ausschließlich darum, weil ich hoffe, dass sie Sie zum Nachdenken anregt; dass Sie ihnen vielleicht hilft, die Welt und vor allem unsere Gesellschaft etwas anders, etwas differenzierter zu betrachten.
Vielleicht können Sie danach ein wenig nachvollziehen, dass nicht alles, was sich unter der zumeist biederen Oberfläche vollzieht, jenem Bild entspricht, das man ihnen seit Kindheitstagen von der Welt gezeichnet hat.
Denn da gibt es noch etwas anderes.
Etwas, das Sie gewiss nicht kennen.
Ich nenne es den Abgrund.
Jenen Abgrund, der tief hinab in die Niederungen der menschlichen Natur führt.
Ein Ort, der tief unter der Oberfläche unserer bürgerlichen Welt existiert und indem jede noch so verwerfliche pathologische Neigung nicht nur toleriert wird, sondern vielmehr Gesetz ist.
Ich hätte gerne, dass sie gemeinsam mit mir hinab in jene Tiefen sehen, aus denen aus man nur schwer wieder hinauf in das Licht findet. Jenes Licht, in dem die meisten unter Ihnen Tag für Tag leben; selbst in den kurzen Momenten, in denen sich der ein oder andere Schatten über ihnen auftut.
Doch ich muss Sie warnen!
Vieles von dem, was sie lesen werden, ist nichts für schwache Nerven.
Ich erzähle meine Geschichte auf meine Weise!
Schonungslos, offen und ehrlich!
Wenn es also Ihre Gemütsverfassung nicht zulässt, legen Sie dieses Buch bitte wieder beiseite. Denn es ist nicht meine Intention, Ihnen seelischen Schaden zuzufügen oder Ihnen gar Albträume bescheren zu wollen.
Sie sind noch immer hier?
Nun gut, dann lassen Sie uns beginnen.

Kapitel 2
KINDERHEIM

Meine Mutter hatte mich also in ein Kinderheim gebracht.
Angemerkt sei bereits an dieser Stelle, dass es sich dabei um eine Einrichtung mit konfessionellem Hintergrund handelte.
Überrascht Sie das?
Vermutlich nicht.
Das Heim selbst war typisch für jene Zeit.
Die Zimmer waren relativ groß, jedes einzelne davon in seiner grotesken Regelmäßigkeit mit zwölf Betten versehen, wobei jeweils vier an den gegenüberliegenden Wänden platziert waren.
Die verbliebenen vier standen in der Mitte des Raumes und somit im Epizentrum allen Geschehens.
Und genau dort, in der Mitte, stand mein Bett.
Es war das zweite von links, soweit ich mich erinnere.
Ich denke noch immer mit Schaudern daran zurück.
Denn wie sie sich sicher denken können, bot dieser Platz keinerlei Rückzugsmöglichkeit. Jene Rückzugsmöglichkeit, die man als Kind dann und wann braucht. Vor allem in Zeiten, in denen das Treiben um einen herum ein Ausmaß erreicht, das schlichtweg nicht mehr zu ertragen ist.
Und so geht man schnell daran, eine Art Schutzschild um sich herum zu errichten; die Welt jenseits der eigenen Gedanken einfach auszublenden und sich unter einer imaginären Glaskuppel zu verkriechen.
So begann ich mich zusehends zu isolieren, lag die meiste Zeit über einfach da, umgeben von ständigem Kommen und Gehen meiner nicht minder problembehafteten Mitbewohner, die nicht gerade zimperlich miteinander umgingen.
Dieses Chaos um mich herum wurde also ein ständiger Begleiter.
Und ein gewisses, wenngleich auch noch kindliches Maß an Gewalt.
Denn mein Alltag in dieser Einrichtung mutete wie ein ständiger Überlebenskampf an. Ein Kampf, den man von Beginn an ohne jedwede Hilfe zu bewältigen hat, allen Widrigkeiten zum Trotz.
Und es war vor allem während dieser Zeit, dass Instinkte in mir wachgerufen wurden, die einem zu Taten verleiteten, die man allgemeinhin als kriminell bezeichnen würde. In dieser Welt jedoch empfanden wir sie nicht als kriminell. Vielmehr waren sie überlebenswichtig.
Ich lernte vor allem eines: Egoistisch zu werden und nur auf mich selbst zu achten. Mich selbst in den Mittelpunkt allen Seins zu stellen.
Einfach, weil es notwendig war.
Zum Beispiel begann ich recht früh zu stehlen.
Nicht etwa Geld oder andere sogenannte Wertsachen.
Nein, ich klaute Essen.
Und manchmal sogar Essensreste.
Denn der Entzug von Nahrung wurde nur allzu gerne als Bestrafung eingesetzt. Meine sogenannten Erzieher hielten das wohl für ein probates Mittel, um sich aufmüpfige Heranwachsende entsprechend gefügig zu machen.
Denn wer hungert, tut alles, um wieder satt zu werden. Selbst wenn es bedeutete, dass man nachts wie ein wildes Tier über Mülleimer herfiel, um eine paar übrig gelassene Brocken, gleich ob Fleisch oder Brot, zu ergattern.
Und da ich ständig hungerte, hatte ich entweder die Wahl zu stehlen oder mich gefügig zu zeigen. Denn auch für Gefügigkeit, für Unterwürfigkeit gab es die ein oder andere Belohnung.
Doch dazu komme ich erst später.
Ich lernte ihn also recht rasch, diesen Balanceakt zwischen rebellischem, tendenziell kriminellem Verhalten und vollkommener Unterwürfigkeit. Ich lernte, wann immer es die Situation erforderte, jene Verhaltensweisen zu heucheln, die gerade von mir erwartet wurden.
Dass man mich dadurch bereits früh zu konditionieren begann, war mir natürlich nicht bewusst gewesen. Welcher Vierjährige wäre auch imstande gewesen, das zu durchschauen?

***

Die Zeit jenseits unserer Schlafsäle verbrachten wir hauptsächlich im Garten des Heimes – sofern dieser diese Bezeichnung überhaupt verdiente. Das trostlose Stück Land mutete eher wie der Freibereich eines Gefängnisses an.
Es bestand lediglich aus einer kleinen Rasenfläche, die mit einem niedrigen Zaun umfasst war, an dessen Nordseite ein winziger Spielplatz etwas Raum für Bewegung bot.
An der Rückseite gab ein altes Tor (das jedoch ständig versperrt war) den spärlichen Blick auf eine schmale, verlassene Straße frei, an deren Seiten sich schier endlose Felder auftaten.
Wenn ich mir heute dieser Bilder der Trostlosigkeit zurück ins Gedächtnis rufe, kommt mir dabei vor allem eines in den Sinn: Das Ende der Welt.
Nicht mehr und nicht weniger.
Die Endstation sämtlicher kindlichen Sehnsüchte. Sehnsüchte, wie etwa Geborgenheit, Sicherheit oder gar Liebe.
Vielmehr ist es mir als winzige Enklave, hinter der die Welt, so wie Sie sie kennen, längst aufgehört hatte zu existieren, in Erinnerung geblieben. Wie eine Art Paralleluniversum, das, ganz seinen eigenen Gesetzen folgend, fernab jenes Lebens vor sich hindämmerte.
Vor allem während der Herbst- und Wintermonate drückte mir die Stimmung schwer auf das Gemüt. Dann, wenn sich die Bäume längst aller Blätter entledigt und nichts als stumpfe Farbtöne hinterlassen hatten, die letztendlich alles um einen herum in Grau versinken ließ.
Natürlich sind mir, obgleich während dieser Zeit die erste Phase meiner bewussten Erinnerungen begonnen hatte, viele der einschneidenden Ereignisse innerhalb des Heims nur schemenhaft im Gedächtnis geblieben. Ich gehe davon aus, dass auch Ereignisse Ihrer eigenen Kindheit dann und wann, wenngleich auch nur sporadisch wiederkehren, ohne dass Sie sich imstande sehen, sie in einen entsprechenden Kontext zu setzen.
Vielleicht gibt es da den ein oder anderen Gedankenfetzen von besonderen Erlebnissen oder von Menschen, die ihnen rege in Erinnerung geblieben sind; gleich ob Sie sie geliebt oder gehasst haben. Doch es ist recht schwer, aus der Summe all dieser Erinnerungen eine Geschichte mit Anfang und Ende zu spinnen, deren Verlauf nachvollziehbar wäre.
Meine Schilderungen beruhen jedoch keineswegs auf Mutmaßungen oder Fantasie-Konstrukten, die ich mir aus der Quelle eben dieser schemenhaften Erinnerungen über die Jahre hinweg zusammengereimt habe.
Denn die vollständige Rekonstruktion dieser umwälzenden Begebenheiten gelang mir schließlich Jahre später, vor allem durch die Mithilfe meiner Adoptiveltern.
Doch mehr dazu später.
Ich wuchs also in der Obhut fremder Menschen auf.
Unbehütet, ungeliebt und im besten Fall als Quelle staatlicher Zuwendungen geduldet, die Einrichtung wie diese am Laufen hielten.
Als ich älter wurde, passierte mir schließlich ein fataler Fehler: Ich wurde zu einem hübschen Jungen.
Einem kleinen, zierlichen Wesen mit engelsgleichem Gesicht und blonden Locken.
Und eben diese Eigenschaften, dieses bildhübsche Äußere, das Eltern unter normalen Umständen als Glücksgriff nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Sprösslinge erachten würden, sollte mir bald zum Verhängnis werden.
Denn ich zog damit vor allem die begehrlichen Blicke jener auf mich, in denen pathologische Neigungen schlummerten, die mit dem Verstand eines Kindes nicht zu erfassen waren.
Meine Unschuld begann die Schuldigen anzuziehen.
Meine kindliche Schönheit wurde zum Magneten für all das Hässliche dort draußen.
Es musste nur jemanden geben, der diese beiden Gegensätzlichkeiten zusammenbrachte; jemanden, der mich gewissenlos den grausamen Gesetzmäßigkeiten des Wechselspiels aus Angebot und Nachfrage unterwarf. Jemanden, dessen oberste Intention es war, mit meiner Unschuld Profit zu machen.
Jemanden, der keine Skrupel kannte.
Dieser eine trat schließlich in der Gestalt meines Heimleiters in mein noch junges Leben.
Der nach außen hin so gläubig wirkende Mensch hatte schnell erkannt, welch enormes Potenzial in mir schlummerte.
Und so ging er mit beinahe schon diabolischem Eifer daran, nicht nur aus mir, sondern auch aus vielen der anderen Kinder ein Produkt zu formen, das diese Nachfrage zu befriedigen imstande war.
Und Nachfrage gab es reichlich.
Wären Sie überrascht, wenn ich Ihnen sage, dass sie vor allem aus den Reihen der sogenannten gehobenen Gesellschaft kam?
Vermutlich nicht.
Alles begann ganz langsam, schleichend und vollzog sich vornehmlich im Schutz der Dunkelheit der Nacht.
Ich erinnere mich, dass ich während der ersten Monate im Kinderheim des Öfteren ganz unvermindert aus dem Schlaf gerissen wurde.
Doch nicht durch meine Mitbewohner.
Denn nach Einbruch der Nacht herrschte stets Totenstille. Jede Zuwiderhandlung zog im Regelfall drakonische Strafen nach sich.
Es waren seltsame Geräusche, die mich keinen Schlaf finden ließen.
Sie drangen zwar meist nur schemenhaft vom Korridor hinter der Tür zu mir herüber, doch ihr Echo ist in meinen Gedanken noch immer nicht verklungen.
Ich erinnere mich noch heute an dumpfes Geflüster, leise Schritte oder das ein oder andere Zischen.
Manchmal wurde die Tür urplötzlich aufgerissen und eines der Kinder wortlos hinausgeführt.
Vorgänge, die ich damals natürlich nicht zuordnen konnte. Die Welt der Erwachsenen mutete für mich zu jener Zeit ebenso seltsam an wie das Leben als Ganzes.
Ich weiß nur noch, dass es mich mit enormem Unbehagen erfüllte. Ich hatte stets das Gefühl, dass jenseits dieser Tür etwas vor sich ging, das verboten war, das böse war.
Und meine kindliche Intuition sollte mir letztendlich recht geben.
Denn es kam der Tag, als dem schließlich auch ich an der Reihe war.
Ich kann heute weder sagen, wann genau es geschah, noch wie spät es war. Selbst nach all diesen Jahren nimmt es sich noch immer wie ein Albtraum aus, wie eine gruselige Geschichte aus längst vergangenen Tagen, in denen es nichts als Furcht gab.
Doch ich weiß noch genau, wie die Tür zum Schlafsaal aufgestoßen wurde und der Flur einen grellen Lichtstrahl ins Innere unseres Zimmers entließ.
Inmitten dieses stygischen Scheins erschien der Umriss des Heimleiters, der mit schnellen Schritten an mein Bett trat, mich packte und meinen schlaftrunkenen Körper roh auf seine wackeligen Beine zerrte.
Bevor ich wusste, wie mir geschah, wurde ich hinaus ins Freie gebracht und in den Kofferraum eines Autos gehoben, das unmittelbar vor der Tür parkte.
Ich glaube, ich war vor Angst derart gelähmt, dass ich nicht mehr imstande war zu schreien, geschweige denn mich zu bewegen.
Offenbar war ich in eine Art Schockstarre gefallen, denn an die Ereignisse danach erinnere ich mich nicht mehr.
Als ich am nächsten Tag erwachte, fühlte ich nur eines: Schmerzen. Vor allem in meinem Mund und meinem Hals. Ansonsten war die Erinnerung an diese Nacht vollkommen ausgelöscht. Mein Verstand hatte offenbar wie von selbst eine Mauer um mich errichtet, eine Art Barriere, die mich vor irgendetwas hatte schützen sollen.
Doch dabei sollte es leider nicht bleiben.
Ein weiteres Mal sollte mir dieser Schutz nicht mehr vergönnt sein.
Es vergingen Tage – vielleicht waren es auch Wochen – in denen nichts geschah.
Die Zeit glitt ereignislos an mir vorüber. Sonnuntergang folgte auf Sonnenaufgang, dazwischen die Routine ereignisloser Tage, die jedem Bewohner des Heimes – und das spürte man nur allzu deutlich – schwer auf das Gemüt schlug. Wir alle waren gefangen in einer Form von Lethargie, die sich Menschen jenseits dieser Mauern nur schwer vorstellen können.
Bis man mich erneut holte.
Mich wie Gepäck, ein Stück Ware wieder in das dunkle Verlies dieses Kofferraums packte. Von einem unseligen Absender verschnürt und gefesselt, um mit verbundenen Augen einem Bestimmungsort zugeführt zu werden, der irgendwo dort draußen in der Dunkelheit der Nacht lag.
Und was mich dort erwartete, sollte mein Leben für immer verändern.
Nachdem man mich wieder entladen hatte, wurde ich in irgendeinen Raum gezerrt, wo man mir schließlich die Augenbinde abnahm und mir den Schlafanzug vom Körper riss.
Mir wurde befohlen, mich auf ein Bett zu setzen, das der einzige Einrichtungsgegenstand in diesem dunklen Zimmer war und zu warten.
Dann wurde ich alleine gelassen. Nackt und frierend inmitten dieser Düsternis, die sich langsam und unaufhaltsam wie eine unsichtbare Fessel um meinen Hals zu schnüren begann.
Und so wartete ich.
Es dauerte nicht lange, bis ein älterer, etwas dicklicher Mann den Raum betrat.
Ich sehe ihn noch heute deutlich vor mir.
Er lächelte mich freundlich an, setzte sich neben mir auf das Bett und begann mit sanfter Stimme auf mich einzureden.
Ich kann mich nicht an seine genauen Worte erinnern, lediglich daran, dass er mich währenddessen am ganzen Körper berührte. Und je länger er auf mich einredete, umso mehr näherte er sich den empfindsameren Regionen.
Was darauf folgte, können Sie vielleicht erahnen.
Nachträglich betrachtet war dieser erste, bewusst erlebte Missbrauch eher harmlos gewesen. Die Berührungen, die er mir zumutete, hatten offenbar einzig und allein dazu gedient, ihn genügend zu stimulieren, damit er sich selbst befriedigen konnte.
Ich war damals noch nicht imstande gewesen, einzuordnen, was ein Erwachsener tat, wenn er sich selbst befriedigte; geschweige denn, was es damit auf sich hatte, wenn er auf meinen Körper oder in diesem ersten Fall auf mein Gesicht ejakulierte. Doch ich war sehr wohl imstande, diesen Vorgang als befremdlich, bizarr und ekelhaft zu empfinden. Vor allem der salzig säuerliche Geschmack, den ich danach auf meinen Lippen schmeckte, hatte sich tief in mein Bewusstsein gebrannt.
In so mancher ruhigen Stunden glaube ich es noch heute schmecken zu können. Und es treibt mir nach wie vor ein Gefühl des Ekels in die Magengrube.
Doch so befremdlich diese erste Erfahrung auch gewesen war, ich hatte während dieser Nacht noch Glück gehabt.
Doch dabei sollte es nicht bleiben.
Denn je öfter man mich in der darauffolgenden Zeit holte, umso weiter wurden die Grenzen dessen, was man mir zumutete, erweitert.
Nur der Ablauf blieb stets der Gleiche.
Ich wurde gepackt und an irgendwelche unbekannten Orte verfrachtet, wo diese unbekannten Männer ungestört ihre Neigungen an mir ausleben und quasi mit mir spielen durften.
Die wenigen Male, in denen ich töricht genug gewesen war, mich zu weigern, wurde ich einfach mit Beinen und Armen am Rücken gefesselt und in den Kofferraum geworfen.
Und falls ich darüber hinaus noch die Frechheit besaß, mich den Bedürfnissen der Kunden zu verweigern, fesselte man mich einfach an das Bett, sodass ich vollkommen wehrlos alles über mich ergehen lassen musste.
So ging es über Monate dahin.
Zwar nicht jede Nacht, doch oft genug, um mich bereits nach kurzer Zeit zu brechen.
Ich denke inzwischen, dass man bewusst mit einer kalkulierten Unregelmäßigkeit vorgegangen ist, sodass stets die Ungewissheit in mir herrschte, dass es jederzeit wieder passieren konnte.
Ich gewöhnte mir schnell an, stets nur mit halb offenen Augen zu schlafen, sodass ich zumindest auf das nächste Ereignis vorbereitet war. Denn nichts war schlimmer, als aus tiefem Schlaf gerissen und in einen dieser Albträume hineingestoßen zu werden.
Unglücklicherweise änderten meine Verkäufer mit der Zeit ihr Vorgehen.
Denn sie wurden vorsichtiger.
Uns nachts irgendwo hinzubringen, barg natürlich das Risiko in sich, irgendwann erwischt zu werden. Der Polizei zum Beispiel im Rahmen einer Routinekontrolle erklären zu müssen, warum da ein gefesseltes Kind im Kofferraum lag, hätte meine Peiniger wohl in Erklärungsnotstand gebracht.
Und so schufen sie die entsprechenden Voraussetzungen, um dem zu entgehen.
Noch heute ist mir dieser Raum im obersten Stock des Heimes in Erinnerung, in dem ein rotes Sofa stand.
Wir nannten es das Rote Zimmer.
Ein Ort, der uns nichts als Schrecken verhieß.
Eine dunkle, schmutzige Höhle, in der ich stets nackt drapiert wurde, bis einer der Kunden eintraf, um mit mir alles zu treiben, wonach ihm gerade der Sinn stand.
Die Ereignisse in diesem Roten Zimmer waren die schlimmsten.
Vielleicht darum, weil man sich, aller Widrigkeiten zum Trotz, innerhalb des Heimes doch irgendwie sicher fühlen wollte und sich nun auch noch die Hoffnung auf diese vermeintliche Sicherheit als Illusion erwiesen hatte.
Ich war zu einem Stück Fleisch degradiert worden, zu einem willenlosen Etwas, dessen einzige Bestimmung es war, die Begierden anderer zu befriedigen.
Man bediente sich nach Lust und Laune meiner Genitalien, meines Hinterns, vor allem aber an meinem Mund.
Wie ich später erfahren habe, erlaubten unsere Betreuer nur Handlungen an mir, die keine Spuren hinterließen.
So war es zum Beispiel gut bestückten Kunden nicht gestattet gewesen, mich anal zu penetrieren.
Man hatte perfiderweise Angst vor Verletzungen. Einen Heranwachsenden mit derartigen Verletzungen in ein Krankenhaus bringen zu müssen, hätte die ganze Sache wohl nur allzu schnell auffliegen lassen. Abschürfungen oder blaue Flecken waren eine Sache, ein verletzter Anus eine ganz andere.
Andere, normale Männern hingegen hatten ihre abartigen Triebe nicht im Zaum halten müssen und durften sich nach Herzenslust auch an meinem Hintern vergehen.
Obwohl die meisten Einzelheiten der jeweiligen Misshandlungen längst in Chaos meiner Erinnerungen untergegangen sind, hat seltsamerweise der orale Missbrauch die stärksten Eindrücke bei mir hinterlassen.
Eindrücke, die mich bis heute verfolgen.
Sie fragen sich an dieser Stelle sicher, warum dieses Treiben so lange unentdeckt geblieben ist. Sie fragen sich sicher, warum ich eines Tages nicht einfach weggelaufen bin und mein Leid hinaus in die Welt geschrien habe?
Die Antwort darauf ist recht einfach: Wer hätte in den Sechzigerjahren einem Vierjährigen auch nur ein Wort geglaubt?
Doch das war nicht der einzige Grund.
Hinter allem, was mir angetan wurde, steckte ein ausgeklügeltes System.
Eine perverse Strategie.
Nicht nur, was die Organisation all dieser Vorgänge anbelangte, sondern auch, wie man uns dafür konditioniert hatte.
Die perfide Routine, mit denen meinen Peiniger meinen Körper und auch meine Seele verkauft hatten, ließ darauf schließen, dass diese Menschen über reichhaltige Erfahrung verfügten, die gewährleistete, dass sie bei ihrem Treiben niemals ertappt werden würden.
Ein wesentlicher Teil unserer Konditionierung bestand zum Beispiel darin, uns jedwede Kommunikationen einfach zu verbieten.
Im Zimmer, beim Essen, selbst beim Spielen herrschte stets absolute Stille.
Niemand wagte es zu sprechen.
Und meine sogenannten Erzieher achteten mit Argusaugen darauf, dass sich niemand dieser eisernen Doktrin widersetzte.
Die Folge davon war, dass ich kaum imstande war zu sprechen.
Eine äußerst geschickte Vorgehensweise, nicht wahr? Ein Junge dieses Alters, der nicht imstande war, seinen Schmerz durch Sprache zu artikulieren und so unfreiwillig zum Schweigen verdammt war, wurde letztendlich zum perfekten Erfüllungsgehilfen all dieser verbrecherischen Machenschaften.
Mir wurde später erzählt, dass man mir im Rahmen eines mühevollen Prozesses das Sprechen erst beibringen musste, sodass ich erst mit etwa fünf Jahren einigermaßen imstande war, mit meinen Mitmenschen zu kommunizieren.
Und dies natürlich nur, weil ich mich zuvor diesem mühevollen Prozess unterzogen hatte, in dessen Verlauf ich langsam lernte, zu Erwachsenen wieder Vertrauen zu fassen.
Der einzige Trost für mich war, dass ich mit meinem Elend nicht allein dastand.
Heute weiß ich, dass es bereits Dutzenden Kinder vor mir gegeben hatte, denen das gleiche widerfahren war. Und ich habe ja bereits erwähnt, dass es den anderen Kindern neben mir nicht besser ergangen war.
Selbstverständlich nur den Hübschen. Oder eben jenen, die unsere Peiniger damals als hübsch erachteten.
Ich denke, das Schlimmste an all dem ist letztendlich die Erkenntnis, dass man sich als Kind an so gut wie alles gewöhnen kann.
Selbst an Missbrauch.
Diese stetig wiederkehrenden, schrecklichen Erfahrungen waren irgendwann zu einem fixen Bestandteil meines Lebens geworden.
Sie waren zur Routine geworden.
Ich war tatsächlich der Meinung, dass es allen Kindern auf dieser Welt so erging und dass es normal sei, Erwachsenen auf diese Art zu Diensten sein zu müssen.
Doch alles im Leben hinterlässt Spuren.
Hinterlässt Wunden, die einfach nicht verheilen wollen.
Denn bereits während dieser Zeit entwickelte mein Körper Mechanismen, die inzwischen zu einem fundamentalen Bestandteil meines Wesens geworden sind und die vornehmlich dazu dienen, mir unterbewusste Warnsignale zu senden.
Ich sprach vorhin vom oralen Missbrauch.
Jener Art von Misshandlung, die am häufigsten an mir vollzogen wurde.
Er hat die deutlichsten Spuren in meinem Verhalten hinterlassen.
So ist beispielweise jeder Zahnarztbesuch auch heute noch eine beklemmende Erfahrung für mich. Das Eindringen von Fingern in meinen Mund löst nach wie vor Panikattacken in mir aus, was immer zur Folge hat, dass ich, wenngleich auch leise und kaum hörbar zu weinen beginne.
Es hat lange gedauert, bis ich den Mut gefasst hatte, dem jeweiligen Arzt zu erklären, was es genau damit auf sich hatte.
Ich denke heute, dass es vor allem die Dauer des Missbrauchs ist, die mich zu dem gemacht hat, was ich bin.
Wäre mir all das nur einige wenige Male widerfahren, wäre ich vermutlich über die Jahre imstande gewesen, einfach alles zu verdrängen.
Doch das war mir leider nicht vergönnt gewesen.
Denn während der wenigen Jahre, die ich im Kinderheim verbrachte, wurde ich weit über fünfhundertmal missbraucht.
Derartiges lässt sich nicht mehr verdrängen.
Sie werden sich an dieser Stelle die Frage stellen, wie ich auf diese Zahl gekommen bin, nicht wahr? Ob sie lediglich auf Mutmaßungen beruht oder fehlerhaften Erinnerungen, die der kindlichen Fantasie eines naiven Heranwachsenden entsprungen sind. Eines Heranwachsenden, der die ein oder andere schlechte Erfahrung dazu benutzt, diese Schauergeschichten zu erfinden, um so dem Umstand zu rechtfertigen, warum er zu einem derartigen Sammelsurium an emotionalen Defiziten geworden ist.
Vielleicht fragen Sie sich auch, ob ich einfach lüge.
Nun, ich muss sie leider enttäuschen.
Denn von den Einzelheiten des grausamen Treibens während meiner frühen Kindheit erfuhr ich tatsächlich viele Jahre später, nachdem meine Adoptiveltern im Rahmen eines Gerichtsprozesses Zeugen der Aussagen vieler Betroffener geworden waren.
Als sie mir schließlich während meiner Jugendjahre die Wahrheit offenbarten, fügte sich das Puzzle aus fragmentarischen und bewusst erlebten Erinnerungen, das ich während der gesamten Zeit meines Heranwachsens vergeblich versucht hatte zusammenzusetzen, zu diesem erschütternden Gesamtbild zusammen.
Und dieses Bild, diese letzte, unumstößliche Erkenntnis lieferte mir letztendlich auch die Erklärung für die Merkwürdigkeiten, die ich an mir selbst festgestellt hatte.
Die Schlussfolgerungen daraus waren relativ einfach.
Meine Seele hatte sich mir längst verschlossen.
Wir wollten einfach nichts mehr miteinander zu tun haben.
Kurz gesagt, ich war gebrochen.
Die daraus resultierende Leere, die innere Einsamkeit, gepaart mit mannigfaltigen Ängsten hatten über die Jahre eine von unzähligen Makeln durchdrungene Persönlichkeit geformt.
Und diese Makel begleiten mich bis heute.
Neben unzähligen Flashbacks, die mich während der Nacht in meinen Träumen heimsuchen, sind es vor allem die Ängste, die mich in Alltagssituationen zeitweilig lähmen.
So ist es mir zum Beispiel nach wie vor unmöglich, allein mit Bussen, Zügen, Straßen- oder U-Bahnen zu reisen. Es ist stets ein Begleiter notwendig. Steht keiner zur Verfügung, nehme ich mir ein Taxi oder gehe einfach zu Fuß.
Die Angst, von wem auch immer überwältigt zu werden, ist mein ständiger Begleiter, obgleich mir der rationale Teil meines Verstandes mir ständig suggeriert, wie absurd mein Verhalten im Grunde genommen ist.
Und es gibt noch etwas.
Etwas, dass Sie als gläubiger Mensch, der Sie vielleicht sind, erschüttern wird.
Ich hasse jedwede Form von Religion.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, denn ich habe nichts gegen das Konzept eines Gottesglaubens. Ich sehe nur absolut keine Notwendigkeit für eine Religion oder gar einer Kirche dafür.
Hat Oscar Wilde noch Religion als Opium für das Volk bezeichnet, geht ihre Bedeutung für mich weit darüber hinaus. Aus meiner Sicht ist sie der perfekte Nährboden, auf dem so manche Grausamkeit unbemerkt gedeihen kann, während sie sich unter dem Deckmantel der Scheinheiligkeit verbirgt.
Vielleicht verstehen Sie diese Aussage als unzulässige Verallgemeinerung, was sie vielleicht auch ist. Denn zweifellos sind nicht alle Anhänger religiöser Kollektive vom Schlag meiner einstigen Peiniger.
Doch für mich ist ein einziger bereits einer zu viel.
Denn es waren vor allem diese ach so frommen Menschen, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin.
Zu einem Opfer.
Zu einem willfährigen Opfer für all jene, die imstande waren, meine Schwächen zu wittern.
Raubtiere, die auf der Suche nach einer hilflosen Beute waren.
Und es dauerte nicht lange, bis diese Raubtiere erneut die Witterung aufgenommen hatten.
Doch das ist eine andere Geschichte.
Zu guter Letzt durfte ich dann doch noch erfahren, dass die meisten meiner Peiniger einige Jahre später für ihre Straftaten verurteilt wurden.
Ob sie dafür ins Gefängnis mussten, konnte ich hingegen nicht in Erfahrung bringen.
Es ist inzwischen auch bedeutungslos für mich.
Denn ich hege keinerlei Rachegedanken mehr gegen sie, da die meisten von ihnen inzwischen mit Sicherheit tot sind oder es bald sein werden.
Und selbst wenn die Gerechtigkeit bei dem ein- oder anderen nicht obsiegt hat, so lebe ich in der Gewissheit, dass es der Tod ist, der letztendlich immer für Gerechtigkeit sorgt.

Kapitel

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… umfasst „Im Abgrund – Die wahre Geschichte von Pusyboy“. Das erste Kapitel, sowie einen Auszug aus dem zweiten Kapitel findet ihr hier als Leseprobe, oder als PDF zum Download!

BUCHTRAILER

DAS INTERVIEW

Daniel G. Anders - Im Abgrund

„Dieses Buch zu veröffentlichen, ist mir nicht leichtgefallen. Es zeigt Episoden aus meinem bisherigen Leben auf, die so mancher von Ihnen wohl als grotesk oder gar abartig empfinden wird. Doch ich hatte das unbedingte Bedürfnis, meine Geschichte zu erzählen. Nicht nur, weil ich dadurch hoffte, wieder ein wenig mehr zu mir selbst finden zu können, sondern weil ich der Ansicht bin, dass sie auch eine Warnung darstellt. Wenn Ihr mehr darüber wissen wollt, hier gehts zum Interview …“

Daniel G. Anders

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